Martin Sabrow: Der Rathenaumord und die deutsche Gegenrevolution
Vor 100 Jahren ereigneten sich in der noch jungen Weimarer Republik mehrere Attentate, die in dem Mord an dem Reichsaußenminister Walter Rathenau gipfelten. Mich beschäftigten die Fragen, wie es überhaupt zu den Attentaten kommen konnte, wer für diese Taten verantwortlich war und welche Ziele mit den Anschlägen erreicht werden sollten.
Der erste tödliche Angriff wurde auf Matthias Erzberger, früherer Reichsfinanzminister, verübt. Er befand sich zur Erholung im Schwarzwald, als er dort von zwei Mördern regelrecht am 26. August 1921 hingerichtet wurde. Erzberger war kein Jude, aber er war in den Augen der Rechtsextremisten ein Volksverräter, da er den Knebelungsvertrag von Versailles unterschrieben hatte. Das nächste Opfer war Philipp Scheidemann, erster Reichsministerpräsident, der mit Blausäure aus dem Weg geschafft werden sollte. Durch glückliche Umstände hat er überlebt. Scheidemann war ebenfalls kein Jude. Das dritte Opfer war Walter Rathenau, der auf offener Straße in Berlin am 24. Juni 1922 erschossen wurde. Rathenau war Jude. In seiner Funktion als Reichsaußenminister verfolgte er die sogenannte „Erfüllungspolitik“ des Versailler Vertrages, was ihn zum Todeskandidaten machte. Das nächste Attentat galt dem jüdischen Publizisten Maximilian Harden, der allerdings schwer verletzt überlebte.
Am meisten erschütterte der Mord an Rathenau die Republik. Anders als bei den Mördern von Erzberger, die mit Hilfe höherer Stellen ins Ausland fliehen konnten, wurden diese Mörder quer durch das Reich gejagt; in die Enge getrieben, verübten sie Selbstmord.
Wichtiger Bestandteil des Buches sind die Gerichtsverfahren, die gegen alle an den Morden Beteiligten - soweit man deren habhaft wurde - geführt wurden. Drei Verfahren sollen exemplarisch das Vorgehen der Gerichte aufzeigen.
Für den Erzberger-Prozess ist die Offenburger Staatsanwaltschaft zuständig. Dieser gelingt es, die Identität der Täter zu ermitteln und stößt während der Fahndung auf die Spur einer weit verzweigten, rechtsextremistischen Geheimorganisation, die Organisation Consul (OC), deren Kopf Hermann Erhardt ist. In dieser Organisation finden sich Offiziere wieder, die sich in der neu gegründeten Republik nicht zurechtfinden. Gemeinsam ist allen Mitgliedern der Hass auf die Demokratie. Ihr Wille ist deren Zerschlagung und die Errichtung einer Diktatur. Der Polizei gelingt es, mehrere, für die Organisation wichtige Mitglieder festzunehmen. Durch den Prozess wird die Geheimorganisation enttarnt und (vordergründig) aufgelöst.
Gänzlich anders verläuft das Gerichtsverfahren gegen die Beteiligten am Rathenaumord, der vor dem Leipziger Staatsgerichtshof stattfindet. Sabrow schildert detailliert, wie das Gericht die einzelnen Tatumstände bewertet und mit der ganz offensichtlichen Beweislage, dass eine Organisation hinter dem Mord stehen muss, umgeht und diese dennoch ausklammert. Gegen die OC soll separat ermittelt und der Prozess geführt werden. Nach dem Erzberger-Prozess hat sich die Organisation Consul völlig unbemerkt und durch geschickte Gründung eines ganz normalen Vereins getarnt neu und schlagkräftiger aufgestellt. Gerade der Rathenaumord sollte die Linken provozieren eine Revolution zu starten, so dass die OC mit Unterstützung der Reichswehr den Sturz der Regierung herbeiführen und die Diktatur etablieren kann. Mit dem Tatmotiv hat sich der Leipziger Staatsgerichtshof kaum befasst. Einer der Angeklagten versicherte, „das Attentat sei weder aus fanatischem Antisemitismus geboren, noch habe es lediglich der Person des Außenministers selbst gegolten. Der Stoß wurde gegen das System geführt, das in ihm seine Verkörperung fand….“ (S. 199). Bei einigen Bewertungen der Tatumstände durch die Richter fragt man sich als Leser, ob diese nicht nationalistisch geprägt waren. In dem später geführten Verfahren gegen den Geheimbund wird der Verdacht durch deren Rechtsanwalt deutlich, dass „Geheimbund und Richter eine gemeinsame Distanz zur Republik verband“ (S. 256).
Das Gerichtsverfahren gegen die Organisation Consul ist eine einzige Farce. Von den ursprünglich Angeklagten waren inzwischen 44 aus Mangel an Beweisen außer Verfolgung gesetzt worden, gegen 4 weitere Beschuldigte hatte das Gericht das Verfahren ganz eingestellt, darunter der Kopf der OC, Hermann Erhardt. Das Gericht nahm unverhohlen Partei mit den Angeklagten. Es stellte immerhin eine gewisse Mitschuld bei allen Attentaten fest, die jedoch folgenlos blieb. 16 Angeklagte erhielten lediglich Strafen von drei bis acht Monaten Gefängnis. „In der Zusammenschau…tritt das Bild einer Serie politischer Gewalttaten zutage, die in ihrer Anlage der von Erhardt und anderen Köpfen der deutschen Gegenrevolution beharrlich verfolgten Strategie einer Destabilisierung und Zerschlagung der ersten deutschen Republik gehorchte, der buchstäblich jedes Mittel recht war“ (S. 270/271).
Der Kopf der Organisation Consul, Hermann Erhardt, konnte auch später nicht zur Rechenschaft gezogen werden, da man ihm nichts nachweisen konnte. Unter der Diktatur des Nationalsozialismus konnte er sich sogar mancher Taten rühmen und später war er geschützt durch die bis 1969 geltende Verjährungsfrist von zwanzig Jahren für mit lebenslanger Freiheitstrafe bedrohte Verbrechen.
In allen Gerichtsverfahren wird deutlich, dass die Gerichte nicht „willens und fähig waren“, wie Sabrow bereits in der Einleitung feststellt, die Hintergründe zu erhellen.
Das Buch enthält eine Fülle von Informationen, die auch einem interessierten Laien die Zusammenhänge verstehen lassen. Die vielen Namen der Beteiligten machen es mitunter dem Leser nicht leicht, die Übersicht zu behalten. Zum Teil wird auch Wissen vorausgesetzt. Die Ausführungen Sabrows legen ausführlich dar, wie wachsam Politik sein muss, auch in Bezug auf die Gerichte.
Leseempfehlung für alle, die sich über diesen Zeitabschnitt der jüngsten deutschen Geschichte ausführlich informieren wollen.
Das Buch ist in thematische Kapitel eingeteilt. Die aktualisierte Neuausgabe schlägt im letzten Kapitel den Bogen zu den aktuellen Attentaten bis einschließlich 2019. Literaturhinweise, Anmerkungen und Personenregister sind hilfreich und führen ggf. weiter.

Liebe Frau Hitschler, ich lese es gerade und kann es nicht mehr aus der Hand legen. Die Geschichte und die Sprache, beides zieht mich regelrecht in einen „Lesestrudel“ und ich tauche ab in diese ganz andere, fremde Welt. Eine großartige Empfehlung. Ich freue mich auf unseren Austausch. Haben Sie einen schönen Abend!